Untertitel: Depression und Gesellschaft in der Gegenwart.
Die wachsende Ausbreitung von Depressionen, der steigende Konsum von Antidepressiva und die Zunahme der Alkoholabhängigkeit sind für Alain Ehrenberg Reaktionen auf die allgegenwärtige Erwartung von eigenverantwortlicher, authentischer Selbstverwirklichung.
…so ist die Depression die Kehrseite einer kapitalistischen Gesellschaft, die das authentische Selbst zur Produktivkraft macht und es dann bis zur Erschöpfung fordert. Ehrenberg untersucht in einer erhellenden Kombination von Psychiatriegschichte und Zivilisationsdiagnose, welchen psychischen Preis die Individuen für diese Verkehrung heute zu zahlen haben.
Der Titel hatte mich schon lange angesprochen, jetzt kaufte ich mir das Buch. Ja es war teilweise sehr schwer zu lesen, einfach weil ich mich derzeit schlecht konzentrieren kann und teilweise weil es sehr kompliziert und verschachtelt und akademisch abgehoben geschrieben ist. Naja am Institut für Sozialforschung darf man das auch.
Deswegen schreibe ich hier nur ein paar Zitate auf, die mich sehr angesprochen haben.
S.4: Der Depressive ist nicht voll auf der Höhe, er ist erschöpft von der Anstrengung, er selbst werden zu müsen.
( Was das Selbst ist, wird dann später noch genauer erforscht und erklärt).
S.13: Die Depression ist nicht die Krankheit des Unglücks, sondern die Krankheit des Wechsels, die Krankheit einer Persönlichkeit, die versucht, nur sie selbst zu sein. Die innere Unsicherheit ist der Preis für diese Befreiung.
Er beschreibt das „zirkuläre Irresein“ also das manisch-depressive. Ich finde den Ausdruck irgendwie passender. Ich kenne das von mir in abgemilderter Form: es gibt Wochen ja Monate da bin ich fit und arbeite und unternehme viel und dann wieder die wochenlange bleischwere Müdigkeit, die absolute Unlust, die fehlende Freude und keine Interessen. Ein dahinvegetieren.
S.33: Der Psychiater Jules Seglas (1856-1939) definiert den Kern, der die Depression in den 1940ern Jahren ausmachen wird: In der Melancholie „ohne Wahn oder mit Bewußtsein“, sagt er in einer Lektion 1894, beschränkt sich das Leiden auf ein Ohnmachtsgefühl. Dieser seelische Schmerz, diese schmerzhafte Depression ist das offenkundigste Symptom der Melancholie, ich würde sogar sagen, das charakteristischste.
S. 79: Der Begriff der Depression impliziert Verlust, Herabsetzung oder Fall. Die Depression hat ein bestimmtes Ziel: Die Selbstachtung. Der Depressive reagiert auf Enttäuschungen mit Vorwürfen gegen sich selbst und andere. Nun ist die Selbstachtung für die Psychoanalytiker mit einer besonderen Schmerzlichkeit verbunden. (..) sondern eine Reaktion auf den Objektverlust. Dieser Schmerz, den er narzisstisch nennt, wirkt sozusagen entleerend auf das Ich (Freud).
(Für mich trifft diese These leider sehr zu. Schwere lange depressive Phasen hatte/habe ich immer nach einem Verlust: Jobkündigung, Beziehungsabbrüche usw. mir wäre es auch lieber und einfacher wenn es „nur“ ein Serotoninmangelsyndrom oder so etwas wäre. Auch darauf wird später in dem Buch eingegangen. Es gibt viele unterschiedliche Depressionsarten! So unterschiedlich sind dann auch die Behandlungen. Auch der Elektroschock wird im Buch thematisiert.)
„ Ich kann mich dem Schicksal nicht länger unterwerfen. Was ich möchte, diese Kleinigkeit, nicht gut zu sein, wie es unsere Tradition versteht, sondern meinen Weg zu gehen. Aber wie? Was habe ich zu bieten? Diese Angst verzehrt mich.“ Aus dem Buch: A bend in the river. Naipaul 1979
S.120: Die „depressive Persönlichkeit“ ist unfähig, ihre Konflikte auszutragen, sie sich zu vergegenwärtigen. Sie fühlt sich leer, zerbrechlich und kann Frustrationen nur schwer ertragen. Daher rührt ihre Neigung, Abhängigkeitsverhalten zu entwickeln und nach immer neuen Reizen zu suchen. Psychoanalytisch sagt man (…) der sogenannten Spaltung angehört. Ein Gefühl der Unzulänglichkeit beherrscht die Person.
Das mit den Frustationen ist bei mir sehr schlimm. Das kleinste Fitzel das nicht funktioniert und ich bekomm sofort Schweißausbruch und Zittrigkeit. Eine Schraube an der falschen Stelle eingedreht und ich könnt vom Balkon springen. Das ist nicht nur Ungeduld, das ist Ungeduld hoch 10 und nervt mich selbst sehr.
Und das mit den neuen Reizen: OHJA! Ständige Umzüge, neue Jobs, neue Projekte, neue Frisur, je ausgefallener und schräger desto besser. Früher lief ich nur in bunten Hosen mit auffallendem Muster herum. Meine Normalitätsneurose blüht ordentlich. Wehe dem es ist nix Neues in Aussicht: Gähnende Leere. Müdigkeit. Extreme Lustlosigkeit. Sehr schlechte Laune. Der Alltag ödet mich schrecklich an.
Bezüglich Abhängigkeitsverhalten erinnert mich der Absatz an ein Buch das von der weiblichen Depression handelte. Das diese anders sei. Da gehe es mehr um fehlende Kontakte, Beziehungen. Wenn kein Du da ist. Ist jemand da reagiert man schnell Coabhängig, klammert, gibt sich selbst auf um den anderen nicht zu verlieren. Geht das Gegenüber doch, kommt die Depression (siehe Verlust weiter oben).
Dazu passt auch:
S. 150:
Die depressive Persönlichkeit verharrt in einem Zustand der permanenten Adoleszenz, es gelingt ihr nicht erwachsen zu werden und die Frustationen, die das Geschick eines jeden Lebens sind, zu akzeptieren. Daraus resultiert das ständige Gefühl der Unsicherheit, der Labilität.
Seufz. Ja. Meine jüngeren inneren Anteile haben ganz schön Macht. In der souveränen Erwachsenen bin ich leider zzu selten. Die Arbeit mit inneren Anteilen tut mir aber immer sehr gut und das Buch ERWACHSEN hilft mir manchmal dabei.
Der Autor beschreibt weiter wie diese Frustationsintoleranz weiter zu Drogensucht, Alkoholismus, Selbstmordgedanken , Impulshandlungen und Gewalt führt.
S. 209: Der Sieg des Defizitmodells manifestiert sich in der Annahme, die Person sei das Objekt ihrer Krankheit , sie sei daran nicht beteiiligt, sondern Opfer eines Prozesses. Die Depression wird so zu einer normalen Krankheit.
Autonomie, Selbstständigkeit und Verantwortung sind die Schlagworte, die den Menschen der modernen Gesellschaft vor die schwierige und ermüdende Aufgabe stellen, um jeden Preis er selbst zu sein.
S. 218: Der Depressive ist alt, bevor er das Alter erreicht hat.
Jaaaaaaaa. Ich fühl mich so unfassbar alt. Und schwach. Und schlapp.
Leider schlechte Nachrichten:
Die Depression ist unheilbar. „Einen Patienten als von der Depression geheilt zu erklären, bedeutet, ihn als von einer depressiven Episode geheilt zu erklären, und nicht von der Krankheit selbst.“
Die meisten Patienten finden ihr früheres Gleichgewicht nicht wieder, eine Minderheit wird partiell geheilt und eine große Mehrheit erlebt Rückfälle oder die Depression wird chronisch.
Das ist auch mein Eindruck. Nicht nur bei mir, sondern bei sehr vielen anderen Leuten die ich kennengelernt habe. Mich ließ der Satz von Ärtzen: „Depressionen sind heute gut mit Medikamenten und Psychotherapie behandelbar!“ müde lächeln. Behandeln kann ich viel, bringt auch gutes Geld, aber bringts auch Heilung/Besserung? Lebenslange Behandlung, na dankeschön auch.
S. 242: Die Antidepressiva reduzieren mehr oder weniger die Unsicherheit einer Person, die sich chronisch für unzulänglich hält.
Der Autor beschreibt weiter, wie sich mit der Zeit der Begriff der Depression wandelt. Um welche Symptome geht es genau? Eventuell sogar nur um reines Wohlbefinden? Er erläutert wie in jüngster Vergangenheit Medikamente gerne als Drogen missbraucht werden, um in der immer weiter wachsenden Leistungsgesellschaft noch mithalten zu können.
Stichwort von mir: Biohacking. Wird immer populärer.
S. 249: Unsere normative Überzeugung, wie eine Person zu sein hat, um als echte Person betrachtet zu werden, wurde dabei erschüttert.
Irgendwo: Depression ist Autoaggression. Klar sehr gut erkennbar am Selbstmord.