Immer wieder denke ich mir bei so manchen Menschen, das sie schonmal als sie selbst auf der Welt waren. Die wissen genau was sie wollen und sollen (oft schon in sehr jungen Jahren), man fühlt deren tiefe Verbundenheit zu ihren Freunden und überhaupt bewegen sie sich ganz eloquent und geschmeidig in dieser Welt.
Diese Leute rennen mit Ausrufezeichen durch die Welt.
Und ich mit vielen Fragezeichen.
Ich war lange nur ein dünnes ausgefranstes Fähnchen im rauen Wind. Soviel könnte man machen, beruflich und privat, wie sich kleiden, sich schminken (oder nicht), welche sexuelle Orientierung, welche Ernährung, wo einkaufen, in welches Kino, welche Hobbys, wie die Wohnung einrichten, was ist mein Stil, was sind meine Werte?
Mit großen Augen schaute ich in die noch größere Welt.
Wo bitte schön ist mein Halt? Meine Orientierung?
In der teilstationären Traumatherapie malte ich damals einen Leuchtturm. Und ich bekam einen kleinen sicheren Hafen. Dort fand ich nämlich die beste Therapeutin die ich je hatte. Mit ihr schaffte ich es endlich mein Ruder in die Hand zu nehmen und mal herausfinden in welche Richtung ich denn rudern will! Langsam ging es voran.
Langsam fühle ich mich was ich will! Ich fühle mich nicht mehr so erschlagen von all diesen tausenden Möglichkeiten die ich hier habe. Ich spüre weniger Druck auf allen Hochzeiten tanzen zu müssen.
Einschränkungen können auch Freiheit bedeuten.
Zuviel Auswahl kann auch Qual bedeuten. Fluch und Segen.
Immer mehr, immer anderes, immer Neues, nein das Alte, das Bekannte ist auch gut. Eine Basis muss da sein. Auch die alltägliche Routine die sich über die Jahre nun ergeben hat, hilft mir sehr, mich sicherer zu fühlen.
Ich weiß nun mehr was ich will, wer ich bin: Eher leger und locker gekleidet, aber gern mit eleganten Teilen kombiniert. Frisur muss einfach zu handhaben sein. Aufwendiges schminken ist nicht meins. Ich mag keine Fertigprodukte essen. Ich bin introvertiert und brauche Zeit zum tagträumen in dem ich erlebtes verdaue. Ich habe ein Lieblingskino und einige Veranstaltungsorte die ich oft besuche, ich bewege mich gern körperlich wie geistig, ich lasse Menschen schneller wieder gehen die mich triggern, ich brauche viel Schlaf, ich putze daheim etappenweise, ich liebe Ordnung usw.
Meine Persönlichkeit stärkt sich. Ich bekomme Ecken und Kanten.
Ich bilde mir mehr meine eigene Meinung und stehe dazu.
Ich, die dachte alle anderen machen alles immer richtig nur ich bin mal wieder falsch!
Mein innerer Kritiker war nämlich gerne da am Werk: Du kannst doch nicht immer da hin gehen/immer dasselbe nehmen, probier was neues aus. Ja wenn ich die Energie dazu habe, liebe ich es Neues auszuprobieren. Wenn ich mich aber mit jemand treffe, mit dem mich intensiv unterhalte, das Lokal nicht kenne, die Hintergrundgeräusche auch laut sind, dann wäre ein neues Gericht ausprobieren der sichere Weg in die Reizüberflutung! Nur so als Beispiel.
Er macht mich aber auch gern so mal runter: Spinnst du um 20.30Uhr ins Bett zu gehen/ um 7h im halbdunkel schon radeln bei 5 Grad/soviel zu lesen usw. egal was. Alte Täterstimmen. Die werden immer öfter einfach rausgeschmissen: Ach komm halts Maul. Oder: bist doch nur neidisch! Oder einfach: Ja und?
Soll heißen: mir kann man nicht mehr ans Bein pinkeln 🙂
Ich bin ich und das ist gut so. Ich bin mehr bei mir angekommen. Ich kann eine/meine Identität besser spüren und wahrnehmen. Sie ist weniger ausgefranst. Ich fühle mich stärker.
Ich glaube, dass gerade Menschen die in ihrer Kindheit (wo sich die Identität entwickelt) Mißbrauch und Gewalt erlebt haben, genau solche Probleme mit ihrer Identität haben. Weil die brüchig ist. Deswegen ist auch mein Lebenslauf brüchig, viele Umzüge, viele Arbeitsstellen, viele unterschiedliche Jobs, viele Freundschaften/Beziehungen aber alles nichts von Dauer…
Menschen mit Trauma/tisierungen (vor allem durch Menschen) haben oft auch Probleme mit Integrität. Integer sein. Moralisch einwandfrei. Eine Person die Übergriffe, Mißbrauch, Demütigung, Gewalt durch nahe Bezugspersonen erlebt hat und das schlimmstenfalls über Jahre dem braucht man nicht mit Moral daher kommen. Wessen Grenzen ständig überlatschtwerden kann nicht ganz bleiben. Ganz sein. Heil sein. Aber er kann es werden.
Es geht aber auch darum, dass ich mehr aus dem Überlebensmodus gekommen bin. Das beschreibt Dami Charf in ihrem aktuellen Newsletter so gut:
Für die meisten traumatisierten Menschen ist es ein Problem, Pläne für die Zukunft zu schmieden. Das hat viel damit zu tun, dass man eigentlich nicht im „Lebensmodus“, sondern im „Über“-lebensmodus lebt. Wenn es statt um Lebendigkeit nur „um´s Überleben“ geht, ist es auch sehr schwierig, in die Zukunft zu schauen. Ist das Gefühl latenter Bedrohung ständiger Wegbegleiter oder das Gefühl eigener Wertlosigkeit, dann ist all meine Energie darauf gerichtet, mich zu verteidigen gegen die vermeintliche Bedrohung. Es bleibt kein Raum mehr für eine Zukunftsausrichtung.
Oft falle ich noch in den Überlebensmodus und erstarre meistens. Und hänge dann fest. Aber ich komme schneller und leichter wieder in den Lebensmodus, in die Eigenmacht, in die Handlungsfähigkeit. Und plane mit Hingabe und großer Freude Dinge die ich machen will. Das ist immer wieder ganz wundervoll das zu erleben! Dieses spüren: ich bin am Leben! Und zwar nicht nur körperlich, sondern eben auch: Seelisch!