Gerade las ich einen Artikel über Kinder von psychisch kranken Eltern. Ich habe mich darin wieder gefunden. Die Irritation: man sieht und fühlt, dass da was nicht stimmt, aber alle tun so als sei alles in Ordnung und ganz normal. Die Verantwortung die man übernimmt und die maßlos überfordernd ist. Der Tausch der Rollen, die Parentifizierung, Kinder versorgen ihre Eltern oder kleinere Geschwister. Die Einsamkeit, das allein gelassensein weil sich kranke Eltern kaum um ihre Kinder kümmern können. Sie sind ja selbst sehr bedürftig.
Mein Vater war schwer angstgestört, er verließ kaum das Haus und wenn dann nur um mit dem Auto herumzufahren. Aus dem Auto auszusteigen ging schon wieder nicht. Meine Mutter Alkoholikerin und beziehungssüchtig. Beide sehr coabhängig mit einem schwachen Selbstwertgefühl.
Ich habe das alles erst nach und nach kapiert, was da abgegangen ist, die schockierten Blicke in der Selbsthilfegruppe, das erklären meiner Therapeutin, das endlich fühlen dürfen, das erkennen was Sucht mit einer Familie macht, halfen mir dabei.
Erst jetzt mit Ende 30 weiß ich wer ich bin, brauchte viel Kraft und Zeit um mich aus diesem kranken Sog zu befreien, übernehme nicht mehr zuviel Verantwortung, lege meinen Perfektionismus öfter ab. Ich lasse die Schatten der Vergangenheit hinter mir und lebe endlich mein eigenes Leben, anstatt ständig meine Eltern retten zu wollen.
Und darüber möchte ich heute schreiben:
Das ich vermehrt Langeweile und Sehnsucht nach Menschenkontakt spüre ist ja relativ neu für mich. Bzw. nicht ganz, Langeweile verspürte ich als Jugendliche sehr, hatte aber keinen Plan was ich machen sollte, ich war noch zu geschockt von der Scheidung, dem Umzug, all meine Freunde weg, neue Freunde nicht in Sicht, Schule langweilig (ich war da wirklich unterfordert, durfte aber dank meiner Mutter nicht auf die Realschule), Papa weg, Schwester auch usw. schlimme Zeit. Und Langeweile hab ich so ein klein bisschen schon auch später gespürt, stand aber wieder hilflos davor. Ich vergrub mich dann halt in irgendeinen Aktionismus, der weder ein konkretes Ziel noch sonstwas hatte. Neben der Hilflosigkeit spürte ich noch später aber auch Angst: Dann muss ich ja raus und was tun, mir was zutrauen, mich womöglich zeigen WUAH ne da geh ich lieber ins Bett und schlafe.
Und Kontakt mit Menschen? Bloß nicht! So wenig wie möglich. Also gab es viel Leerlauf und viel Alleinesein. Und heute merke ich: Das habe ich genauso gebraucht. Nach all dem Streß mit der Familie, den Jobs, den kaputten Beziehungen ich musste erstmal aus allem RAUS. Mich finden, mich überhaupt mal kennenlernen, mich damit auseinandersetzen: was ist da eigentlich alles gelaufen, meine vielfältigen Traumatisierungen erstmal bewußt werdend.
Und auch: einfach mal zur Ruhe kommen. Viel schlafen, sowenig Streß als möglich und Streß war schon einkaufen gehen.
Dann Schritt für Schritt wieder hinaus in die Welt. Eine Therapie angefangen, wieder mehr Sport gemacht, mehr Menschenkontakte, ganz viele kleine Sachen: weniger perfekt sein, auch mal schlunzig außer Haus gehen, keine Angst mehr vor dem Nachbarn haben mit dem ich mich zerstritten habe, dafür mehr Kontakt zu einer anderen Nachbarin, kleine Ziele gesetzt, weiter gespürt was ich möchte und will, mich ausprobiert, den ersten winzigen Job (alle 2 Wochen 3 Std.). Immer wieder „Rückfälle“ in massiver Erschöpfung, sehr viel Angst vor Menschen, deren Bewertungen, vor unangenehm auffallen. Dann wieder mehr Selbstwertgefühl, das erste Mal mich aktiv wehren gegen eine Grenzüberschreitung, weniger nett sein, das erste Mal alleine verreisen, bessere Selbstfürsorge usw.
Ganz viele kleine Schritte aus dem Traumadesaster. Ein langer Weg, das ist okay. Es wird besser.
Es ist kein geradliniger Verlauf, immer wieder habe ich solch Rückzugszeiten, aber sie sind weniger und kürzer.
Und so merke ich immer öfter: Soviel Schutz-und Rückzugsraum brauche ich gar nicht mehr. Ich fühle mich sicherer und das verbraucht schonmal weniger Energie. Ich kann eher eins nach dem anderen machen und im Hier und Jetzt bleiben, anstatt das meine Gedanken schon wieder weiter purzeln. Ich spüre eher festen Boden: Ich schaffe das schon und wenn nicht ist es auch nicht schlimm. Ich kann was! Ich bin wer! Ich habe Rechte! Ich fühle mich ganzer. Und mehr eins. Ich komme schneller in die Entspannung. Das gehetzte ist weniger.
Ich spüre mehr Sicherheit. In mir. Ich muss nicht mehr ständig alles im Außen kontrollieren. Fühle dass wenn es mal ein schlechter Tag ist, mich was nervt, ich müde bin, alles schief geht: Das geht auch wieder vorbei! Dieser Glaube: es wird wieder gut! Und auch der Glaube an mich selbst wurde stärker: ich schaffe das schon! Und wenn nicht dann darf und kann ich mir auch Hilfe holen! Unbezahlbar. Hatte ich früher nicht. Auch immer wieder das entspannen: Jetzt, hier ist im Moment alles gut, ich muss erst in 30 mins das Haus verlassen bis dahin lass ich es mir gutgehen, entspanne Bauch, atme tief, denke an was schönes. Ich komme raus aus dieser Trauma-Erstarrung, aus dem Schock, aus der Hilflosigkeit, ich komme wieder ins gestalten, ins aktive gestalten meines Lebens. Das fühlt sich kraftvoll an! Heilung heißt nicht, dass alles wieder ungeschehen ist, heißt nicht, dass immer und alles super läuft. Heilung heißt: trotz der Wunden gut zu leben!
Ich habe mich in den letzten jahren sehr gut selbst kennengelernt, ich weiß mehr was ich kann und was ich mag. Ich halte mich mehr an das, als weiterhin meine Kraft zu vergeuden mit Dingen die ich nicht mag und nicht kann. Ich habe gelernt mich zu akzeptieren, mich gut zu finden. Ich lache wieder öfter, ich verdiene auch einen respektvollen Umgang. Ich achte andere Menschen mehr, weil ich weiß jeder hat sein Päckchen und die meisten leben so gut sie es eben können. Ich bin friedlicher, ich habe mehr meinen Frieden geschloßen mit meiner Vergangenheit, mit vielen Menschen die mir weh taten, sie sollen heute im hier und jetzt keine Macht mehr über mich haben. Das ist die beste und größte Rache! Ich habe viel losgelassen. Oft auch aufgegeben. Aber ich bin wieder aufgestanden. Man hat mich oft klein gemacht und ich wollte nicht für immer klein bleiben. Ich bin stolz auf mich was ich alles „trotz allem“ geschafft habe. Es ist nicht das was üblich ist in einem „normalen“ Leben, viele Schwierigkeiten machen mir immer noch oft das Leben schwerer, aber es ist mein Leben und das will ich nicht mehr abwerten, verurteilen oder gar wegwerfen. Ich bin präsent. Das Leben ist ein Präsent. Ein Geschenk.
Ein guter Artikel zum Thema Entwicklungstraune, hier: https://www.sein.de/entwicklungstrauma-folgen-und-heilungschancen/
Nachtrag: Die Tagesmeditation von CODA lautet heute:
In diesem Moment – umarme ich mein bisheriges Leben – das Glück und den Schmerz
Ich verurteile meine Vergangenheit nicht, bleibe nicht in ihr stecken, laufe nicht vor ihr weg. Um wirklich ich selbst sein zu können, muss ich meine Vergangenheit voll und ganz in mein Leben einbeziehen. Sie ist ein Teil dessen, was ich heute bin, aber sie ist nicht alles, was ich bin. Ich weiß meine Lehrer von damals zu würdigen, auch wenn die Lektionen schon mal sehr weh taten. Nur dadurch, dass ich meine Vergangenheit voll und ganz annehme, werde ich für die Gegenwart wirklich frei. Jeden Tag wieder bekomme ich Gelegenheit, mein Leben neu zu gestalten. Ich nutze meine Lektionen, um aus jedem Tag das Beste zu machen.
Wie passend! 🙂